Mittwoch, 2. Oktober 2019

Mauerfall oder: Als die Welt für die Stasi unterging

Ein kleinstes Vorwort: Meine Oma sagte immer: Dass die Mauer fällt, werde ich nicht mehr erleben, auch Deine Eltern nicht. Du vielleicht, mein Junge, Du wirst dabei sein, vielleicht aber auch erst Deine Kinder. Doch eines sei gesagt: Ich war noch mit meiner Oma im Westen! So kann man sich irren als ältere Generation. Aber dass sie sich gelegentlich irren können, haben die älteren Generationen bewiesen, zum Beispiel bei dem Blödsinn, den sie da Jahrzehnte vorher mal verzapft hatten.

Mein persönlicher 9. November sah so aus: Wie für viele Handwerker in der DDR üblich, war auch ich nebenbei arbeiten in einer sogenannten Feierabendbrigade. Ich kam also spät nach Hause. Meine damalige Frau hatte mir einen Zettel hingelegt: Irgendwas stimmt nicht mit der Mauer. Sie war bereits im Bett verschwunden. Ich schaltete den Fernseher ein (noch ohne Fernbedienung, aber schon in Farbe) und wollte Fußball im ZDF schauen. Unten im Bild lief in Dauerschleife ein Textband: Günther Schabowski… Pressekonferenz… Mauer … Reisefreiheit… So schaltete ich hin und her zwischen Fußball und der Pressekonferenz. Günther Schabowski gab auf der Pressekonferenz die Sätze so verschachtelt, die Informationen waren so unglaublich, dass ich die Nachricht vom Mauerfall gar nicht gleich verstand. Im Haus klappten viele Türen, doch ich ging ins Bett. Am nächsten Morgen sah ich in den Nachrichten Bilder von der Bornholmer Brücke, Menschen auf der Mauer, mit Hämmern, ich dachte, ich werde irre.

Eigentlich wollte ich Arbeitssachen anziehen, aber ich glaubte, es würde eh keiner auf der Arbeit sein. Also zog ich zivile Sachen an und wollte zur Mauer fahren. Doch beim Verlassen der Wohnung siegte das schlechte Gewissen, ich drehte mich um und zog Arbeitskleidung an. Ich fuhr Richtung Schönhauser Allee, wo unsere Baustelle war. Die Leute stürmten aus der Bahn und rannten Richtung Bornholmer Straße, ich lief erstmal zur Arbeit. Kein Kollege da, na toll, dachte ich, die sind wohl schon drüben im Westen (wie sich später rausstellte, hatten beide verschlafen).

Also tapperte ich los in Malerhose und Wattejacke, war ja kalt. Kurz vor dem Grenzübergang Bornholmer Straße traf ich meinen Kollegen: Ich meinte: Los, lass uns rübergehen. Ne, nicht in Arbeitssachen, antwortete er. Also ging ich allein durch den Kontrollpunkt, erhielt einen Stempel in meinem Ausweis und stand kurz danach etwas verloren auf der Bornholmer Brücke. Ich fragte mich: Was mache ich eigentlich hier? Klar, die Mauer war auf, überall waren jubelnde Menschen, viele Sektgläser, Fahnen, unbekannte Menschenmengen um mich herum. Auf einmal kam mir eine junge Frau entgegen und umarmte mich, eine ehemalige Klassenkameradin, jetzt Kindergärtnerin. Sie meinte, sie muss jetzt zurück, die Kinder würden jetzt in den Kindergarten kommen.

Und so lief ich weiter, die erste Querstraße links rein. Eine ältere Dame kam mir entgegen und schimpfte: Eh hau ab, Du alter Ostler, mach dass Du zurückkommst! Wie vom Blitz getroffen stand ich da. Ostler, hä? Das erlebte ich nur an diesem denkwürdigen Tag. Tief berührt latschte ich Richtung Grenze zurück. Auf der Mittelpromenade stand mein Meister und rief mir zu. Er meinte: Es gibt Begrüßungsgeld, lass uns loslaufen. Wir tappelten also wieder los, wurden von einer Frau angesprochen und zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Wir stellten uns an einer Sparkasse an, erneut gab es Kuchen, Sekt, Gejubel. Die Sparkasse wusste nicht, wie sie sich mit den ganzen Ostlern verhalten sollte. Also gab es wieder einen Stempel in den Ausweis und Begrüßungsgeld.

Von meinem ersten Westgeld kaufte ich mir eine Schachtel Zigaretten, Benson & Hedges, und ein Feuerzeug. Nun hatte ich auch etwas Kleingeld, und ich rief meine Schwiegereltern an, welche in Westberlin lebten. Da ich keine Ahnung hatte, wo was ist, verabredeten wir uns für den nächsten Tag. Dann lief ich das erste Mal in meinem Leben für Stunden durch Westberlin, gemeinsam mit einem Kollegen, bis die Füße lahmten. Danach ging es zurück Richtung Grenze. Ein Trabi nahm uns mit und brachte uns nach Ostberlin, und somit war der erste Tag im Westen vorbei.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen