Mein persönlicher
9. November sah so aus: Wie für viele Handwerker in der DDR üblich, war auch
ich nebenbei arbeiten in einer sogenannten Feierabendbrigade. Ich kam also spät
nach Hause. Meine damalige Frau hatte mir einen Zettel hingelegt: Irgendwas
stimmt nicht mit der Mauer. Sie war bereits im Bett verschwunden. Ich schaltete
den Fernseher ein (noch ohne Fernbedienung, aber schon in Farbe) und wollte
Fußball im ZDF schauen. Unten im Bild lief in Dauerschleife ein Textband:
Günther Schabowski… Pressekonferenz… Mauer … Reisefreiheit… So schaltete ich
hin und her zwischen Fußball und der Pressekonferenz. Günther Schabowski gab
auf der Pressekonferenz die Sätze so verschachtelt, die Informationen waren so
unglaublich, dass ich die Nachricht vom Mauerfall gar nicht gleich verstand. Im
Haus klappten viele Türen, doch ich ging ins Bett. Am nächsten Morgen sah ich in
den Nachrichten Bilder von der Bornholmer Brücke, Menschen auf der Mauer, mit
Hämmern, ich dachte, ich werde irre.
Eigentlich wollte
ich Arbeitssachen anziehen, aber ich glaubte, es würde eh keiner auf der Arbeit
sein. Also zog ich zivile Sachen an und wollte zur Mauer fahren. Doch beim
Verlassen der Wohnung siegte das schlechte Gewissen, ich drehte mich um und zog
Arbeitskleidung an. Ich fuhr Richtung Schönhauser Allee, wo unsere Baustelle
war. Die Leute stürmten aus der Bahn und rannten Richtung Bornholmer Straße,
ich lief erstmal zur Arbeit. Kein Kollege da, na toll, dachte ich, die sind
wohl schon drüben im Westen (wie sich später rausstellte, hatten beide
verschlafen).
Also tapperte ich
los in Malerhose und Wattejacke, war ja kalt. Kurz vor dem Grenzübergang
Bornholmer Straße traf ich meinen Kollegen: Ich meinte: Los, lass uns
rübergehen. Ne, nicht in Arbeitssachen, antwortete er. Also ging ich allein
durch den Kontrollpunkt, erhielt einen Stempel in meinem Ausweis und stand kurz
danach etwas verloren auf der Bornholmer Brücke. Ich fragte mich: Was mache ich
eigentlich hier? Klar, die Mauer war auf, überall waren jubelnde Menschen,
viele Sektgläser, Fahnen, unbekannte Menschenmengen um mich herum. Auf einmal
kam mir eine junge Frau entgegen und umarmte mich, eine ehemalige
Klassenkameradin, jetzt Kindergärtnerin. Sie meinte, sie muss jetzt zurück, die
Kinder würden jetzt in den Kindergarten kommen.
Und so lief ich
weiter, die erste Querstraße links rein. Eine ältere Dame kam mir entgegen und
schimpfte: Eh hau ab, Du alter Ostler, mach dass Du zurückkommst! Wie vom Blitz
getroffen stand ich da. Ostler, hä? Das erlebte ich nur an diesem denkwürdigen
Tag. Tief berührt latschte ich Richtung Grenze zurück. Auf der Mittelpromenade
stand mein Meister und rief mir zu. Er meinte: Es gibt Begrüßungsgeld, lass uns
loslaufen. Wir tappelten also wieder los, wurden von einer Frau angesprochen
und zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Wir stellten uns an einer Sparkasse an, erneut
gab es Kuchen, Sekt, Gejubel. Die Sparkasse wusste nicht, wie sie sich mit den
ganzen Ostlern verhalten sollte. Also gab es wieder einen Stempel in den
Ausweis und Begrüßungsgeld.
Von meinem ersten
Westgeld kaufte ich mir eine Schachtel Zigaretten, Benson & Hedges, und ein
Feuerzeug. Nun hatte ich auch etwas Kleingeld, und ich rief meine
Schwiegereltern an, welche in Westberlin lebten. Da ich keine Ahnung hatte, wo
was ist, verabredeten wir uns für den nächsten Tag. Dann lief ich das erste Mal
in meinem Leben für Stunden durch Westberlin, gemeinsam mit einem Kollegen, bis
die Füße lahmten. Danach ging es zurück Richtung Grenze. Ein Trabi nahm uns mit
und brachte uns nach Ostberlin, und somit war der erste Tag im Westen vorbei.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen